Frieden - was nun?
(J.-G. Nehls)
Über den Äckern des Dorfes Ruest im Kreis Parchim liegt Sonnenschein, etwas Frost, ohne Schnee. Hier ist es ruhig, die Gedanken gehen an die Fronten. Aber hier wird nicht gekämpft. Nur hin und wieder Flugzeuge. Plötzlich donnern zwei der neuen Düsenjäger über das Land hinweg. Das veranlaßt einen, der mit dem Regime nicht einverstanden ist, zu sagen: "Nun gewinnen wir doch noch den Krieg". Und das ohne jegliche Ironie. Das war am 29. Dezember 1944, als die Feinde in Ostpreußen und bei Aachen standen.
Es ist Hasenjagd am 29. 12. 1944 in Ruest, fast alles alte Herren als Jäger, Soldaten im Urlaub und die Treiber sind Arbeiter und Jugend von den Höfen. Die Strecke beträgt 23 Hasen und 3 Füchse.
Hier ist alles ruhig. In Ruest gibt es Franzosenlager bei den Hufen III, VIII und XIII und im Dorf ein Armenhaus. Keiner der Gefangenen ist im Laufe des Krieges geflüchtet, ein Zeichen sicher dafür, daß sie es bei den Bauern allgemein gut hatten. Überall wurden sie satt, brauchten nicht zu einem anderen Hof gehen, um sich dort satt zu essen. Am besten hatten sie es aber auf dem Hof XI, wie man schreibt.
Das Jahr 1945 bricht an. Jedermann denkt, was es wohl bringen wird! Es sieht düster aus, die Alliierten werden die bedingungslose Kapitulation und die Zerstückelung Deutschlands vollziehen. Stalin hat zwar gesagt: "Die Hitler kommen und gehen, aber das Deutsche Reich bleibt bestehen." Glaubte er das selbst?
Am 26. Januar 1945 kommen die ersten Ostflüchtlinge ins Dorf. So wird es in den nächsten Tagen und Monaten weitergehen. Die Bauern aber wirtschaften weiter, nur gestört durch feindliche Tiefflieger, die die Arbeiter auf den Feldern und die Fuhrwerke auf den Straßen beschießen. Am 19. 4. 1945 werden auf der Crivitzer Chaussee drei Pferde durch Tiefflieger erschossen.
Am 29. April 1945 ist letzter Preisskat in Mestlin bei Hugo Hartig im Klosterkrug, aber Andacht zum Spiel ist nicht recht vorhanden, schreibt E. G. Wahls in seinen Memoiren. Der Flüchtlingsstrorn reißt nicht ab, alles flieht vor den Russen in den Westen, eingedenk der Taten in den ostdeutschen Ländern.
Am 3. Mai 1945 gegen Mittag marschiert die Rote Armee ein. Immer noch treffen Trecks ein, übermüdet, elendig. Man sieht ihnen die Strapazen an. Meistens wurden sie beraubt, ihre letzte Habe wurde ihnen genommen, die Frauen sehr oft vergewaltigt. Der elektrische Strom ist seit dem 3. 5. 1945 abgeschaltet.
Im Laufe der nächsten Tage sammeln sich die Fremdländischen, nehmen von den Bauern Pferde, Fuhrwerke etc., um ihre eigenen Sachen und die geraubten mitzubekommen. Hier zeichnen sich die Franzosen als anständige Menschen aus, sie helfen den Flüchtlingen. So mancher Franzose hat einen Flüchtlingstreck in den Westen gefahren. Später, an der Oder, müssen die russischen Heimkehrer alles stehen und liegen lassen. Sie werden in den Fernen Osten transportiert und in Lagern von den Westeinflüssen desinfiziert.
Am 5. Mai 1945 brennen bei Holz (XI) Wohnhaus und Kuhstall ab. Frau Holz ist mit ihren kleinen Kindern westwärts geflüchtet und landet in einem Sammellager bei Schwerin. Auch bei Ehmcke (XII) brennen Scheune und Viehhaus ab. Am Ruester Krug (I) erschießt der Molkereiverwalter Erich Schulz seine Tochter, seine Frau und sich selbst. Irene Zacharias/Holz schreibt in ihrem Buch, daß Hunderte von Russen Schlange stehen um Schulz seine Frau und die elfjährige Tochter zu vergewaltigen. Man beachte diese gewaltige Zahl.
Johannes Brenncke (I) ist auch erschossen worden. Bei Ehmcke (XII), Pachen (V) erschießen Rotarmisten zwei Nachrichtenhelferinnen und vier Soldaten. Werner Ehmcke erzählt es mir. Er nimmt ihnen die Papiere ab, versteckt sie. Im November werden Ehmcke mit Frau und Sohn und Ehepaar Soltwedel (IX) vom Hof nach Ludwigslust und weiter nach Wöbbelin ins KZ gebracht. Aber vor Weihnachten kehren sie auf ihre Höfe zurück. Werner Ehmcke findet die Papiere der Soldaten nach seiner Rückkehr total aufgeweicht vor, unlesbar, und wirft sie weg. Und wieder bleiben namenlose Gräber!!!
Die beiden Höfe sind in der Zwischenzeit total ausgeplündert. Am Weg von Holz zu den Krähentannen an der Stemberger Chaussee wird ein erschossener Soldat gefunden, der erst im Juni von Frau Ch. Cords und Frau Hinz begraben wird. Auf dem Hof von Holz liegt ein erschossener Soldat Hinrichs aus Röbel. Im "Brandmoor" südöstlich vom Dorf Ruest verstecken sich sieben Soldaten. Sie werden von Rotarmisten aufgestöbert, erschossen und finden ihre letzte Ruhestätte auf dem Dorffriedhof. Ein Soldat wird erschossen aufgefunden am Weg von Mestlin zum Hof XIII. Einige Ruester Frauen verstecken sich im Kadower Moor einige Zeit und bleiben so unbehelligt. Richard Hahn sen. versorgt sie mit Lebensmitteln.
Die landwirtschaftliche Arbeit kommt zum Erliegen, fast alle Pferde und Rinder sind fortgetrieben, Schweine werden von den Besitzern abgeschossen oder geschlachtet. Eines Tages kommt eine Scharfherde von ca. 2000 Stück, dazu eine Rinderherde von 800 Stück. Diese Tiere waren im Kreis Waren zusammengetrieben worden. Am 7. 7. 1945 meldet der Mestliner Bürgermeister Töpper nach Goldberg, daß von den durchziehenden Truppen folgende Weiden abgeweidet wurden: Wiesen zu 90 %, Klee zu 30 %, Luzerne zu 100 %, Hafer zu 12 % und Roggen zu 10 %. Vom hiesigen russischen Kommando sind 250 dz Wintergerste mit unbekanntem Ziel abgefahren.
Die Schafe und Rinder bleiben, bis alles kahl gefressen ist, dann werden sie nach Kadow getrieben. Zum Melken von 400 Kühen werden die Ruester und Kadower Frauen zusammengeholt. Die Schafe müssen die Frauen auch scheren, aber weil keine oder wenige Schafscheren vorhanden sind, müssen Haushaltsscheren zur Hilfe genommen werden. Zur Mittagszeit laufen viele Schafe halbgeschoren rum. Die Ruester Molkerei liegt still, die Milch wird nach Wozinkel gefahren und im Juli erst zur Ruester Molkerei, wo nur für die Rote Armee verarbeitet wird. Die Ruester müssen die Milch bis 1. Januar 1946 nach Techentin liefern.
Durchgetriebenes Vieh bringt auch die Maul- und Klauenseuche mit. Klee muß gemäht und versorgt werden, Mieten werden gesetzt. Am 2. Juli 1945 kommen drei Pflüge mit je zwei Pferden und 16 Frauen, die Wrucken (Steckrüben) pflanzen müssen, am 3. und 4. 7. 1945 pflanzen 20 Frauen.
Als Bürgermeister ist Franz Sternberg eingesetzt. Am Sonntag, 8. 7. 1945, ist nachmittags eine kommunistische Versammlung, bei der Trelewka und Koop vom Rat des Kreises bzw. KPD sprechen und die Bevölkerung auffordern zu helfen, die Not zu lindern. Inzwischen wurden die Rinderherde zum Forsthof Mestlin und die Schafe nach Kadow gebracht.
Am 16. Juni 1945 kommt Irene Holz mit ihren Kindern und als Satellit Karl Hilgendorf zurück und finden den Hof fast abgebrannt. Ein sehr schweres Schicksal für Irene mit ihren Kindern. Aber Karl wird den Laden schon schmeißen!
Am 12. 8. 1945 wird der alte Christian Jarchow (XVIII) beerdigt. Sein Sohn Walter, Ernst Westphal (VI) und Wilhelm Marten (Schule) werden nach Fünfeichen in das KZ der Russen gebracht, wo Jarchow und Westphal verstarben. Cords und Marten wurden entlassen, als das Lager aufgelöst und die "schweren Fälle" nach Bautzen oder Brandenburg gebracht wurden.
Am 13. August 1945 gibt es endlich wieder elektrischen Strom, wenn auch in Etappen und oft recht schwach. Am 22. 9. 1945 kommt ein Rundschreiben des Landrats an: "Die MA (Militäradministration) weist darauf hin, daß der Befehl besteht, Tag und Nacht bis zur Erfüllung der Ablieferung zu dreschen. Es soll in zwei Schichten gedroschen werden."
Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist äußerst knapp bemessen. 13. August 1945 - Mestlin und analog auch für Ruest ist abzuliefern:
von einer Kuh bis 31. 12. 1945 550 Itr. Milch
Schlachtvieh pro Kopf 30 kg
Schweine pro Kopf 45 kg
Schafe pro Kopf 6 kg
von jedem Huhn 20 Eier
Aus gesundheitlichen Gründen gibt Franz Sternberg im September 1945 sein Amt als Bürgermeister ab. Sein Nachfolger wird der Friseur Willi Stachorra. Er ist ein Schwiegersohn von Stuck, der bei Alfred Rieck (XXIV) Tagelöhner ist. Da Stachorra kein Landwirt ist, wird ihm Wahls (VIII) als Berater beigegeben. Oft sind sie aber unterschiedlicher Meinung, wobei das Politische sicher eine Rolle spielt. Im Februar 1946 ist Tanz auf dem Ruester Krug. Es kommt zu Unstimmigkeiten zwischen Stachorra und Wahls, was in eine Schlägerei ausartet. Wahls flüchtete, worüber Stachorra verärgert ist. Eine Frau und zwei Männer mit Stachorra gehen zur Wahlsschen Hofstelle und schlagen dort die große Scheiben im Wohnhaus und viele Fenster in den Stallungen ein.
Die meisten Ruester Männer sind noch in Gefangenschaft. Der Name der Frau beim Fenstereinwerfen dürfte bekannt sein, Es kommt zum Prozeß. Der Haupttäter bekommt 300,- Mark Strafe, was dann aber unter Amnestie fällt. 1946 gibt es eine Gemeindewahl mit der Liste 1 (SED) mit sechs Kandidaten. Es gibt in Ruest nur eine Partei zu diesem Zeitpunkt. Gemeindesekretär ist Hans Schlag, aus Breslau stammend, der ab ca. Frühjahr 1948 die Bäuerliche Handelsgenossenschaft (BHG) in Mestlin aufbaut, sich aber 1951 mit Frau und Sohn nach Westberlin absetzt.
Ende November 1946 wird Bürgermeister Stachorra plötzlich wegen schwerwiegender Delikte im Raum Dobbertin verhaftet. Er bekommt sechs Jahre Zuchthaus, man beachte diese Strafe für einen SED-Funktionär. Beim zweiten Hafturlaub setzt er sich nach Westdeutschland ab, arbeitet später auf Zeche Bismarck in Gelsenkirchen. Irene Holz/Zacharias schreibt mir am 26. Januar 1987, daß Stachorra sich 20 Jahre nicht um seine in Mestlin lebende Tochter gekümmert hat und auch keinen Unterhalt zahlt. Er hat seine Tochter später einmal in Mestlin besucht und ist Ende 1987 verstorben. Sein Nachfolger als Bürgermeister ist Benno Ciesniewski, auch ein Friseur. Eigentlich war er human. Er zog später nach Dabel und frisierte dort. Nach ihm kommt Sedelke, er stammt aus dem Memelland. Nach ihm wird Fritz Riegel Bürgermeister. Er ist Neubauer auf dem Büthberg und stammt aus Ostpreußen. 1949 ist August Sparr Bürgermeister, ehedem Forstarbeiter, aus Ruest stammend.
1950 soll es zur Zusammenlegung der Gemeinde Ruest mit Mestlin kommen. Die beiden CDU-Gemeindevertreter stimmen dagegen, wurden aber von den SED Genossen überstimmt. So gab es keine Gemeinde Ruest mehr, sondern eine Gesamtgemeinde mit Bürgermeister Pigulla.