Der Untergang von Ruest

 (J.-G. Nehls)

Infolge der Besatzung durch die Rote Armee hatten die Bauern sehr zu leiden, insbesondere die Großbauern. Das meiste Vieh abgetrieben, die Wohnhäuser im Wechsel voller Flüchtlinge aus Ostdeutschland, die teils verständnisvoll, teils neidisch auf die Bauern schauten. Alles war sehr knapp, die Bauern Selbstversorger.

Friedrich Otto Gehrkens kaufte 1927 von dem Besitzer Grund den Hof Büthberg, zu Ruest als Hufe III gehörend. Grund selbst hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg den Hof Nr. V dazugekauft, vorher Besitzer Weltzien. Nun hatte Büthberg rund 137 ha und fiel deswegen im Herbst 1945 gemäß des Kontrollratsgesetzes unter die Enteignung.

Flüchtlinge aus Ostdeutschland wurden dort angesiedelt und hatten nun etwa 6 ha als Neubauernstellen. Christian Steinfatt (XXII) verkaufte nach dem Zweiten Weltkrieg an Voss, dieser nach etwa einem Jahr an Kientopp. Wolfram Cords, der in Fünfeichen bei Neubrandenburg einsaß, verpachtete an Gustav Adrian. Rudolf Sternberg hatte an seine Schwester Dau übergeben. Wilhelm Dau ist bis dato Kaufmann in Ruest. März 1947 kauft Heinrich Rathke aus Berlin den Krauterschen Hof (XIV) für etwa 70.000 Mark gegen Barzahlung. Rudi Adrian kauft von Hans Möller (XVII) 16 1/2 ha, Frau Nieland verpachtet an Derwanz, der aus dem Warthegau kam. Soltwedel (IX) verpachtet an Emil Peglau, aus Danzig stammend. Die meisten Bauern wurden in den ersten Jahren zum russischen Wirtschaftskapitän im Landratsamt vorgeladen, weil sie ihr Ablieferungssoll nicht erfüllen konnten. Schon während des Krieges war die Zuteilung an Düngemitteln um die Hälfte des bisherigen Verbrauchs gekürzt worden. Nach dem Kriege gab es erst überhaupt keinen Dünger, der Stalldung fehlte, dann stand aber allmählich wenig Kunstdünger zur Verfügung. Die Bauern glaubten, daß es allmählich besser werden würde. Es war ein Irrglaube, wie wir wissen. Alle Bauern arbeiteten sehr angespannt, auch im Winter. Holz mußte in den aufgegebenen Wäldern geschlagen, gespalten und gestapelt werden. Oder aber es mußte Langholz gemacht werden. Die Arbeitsleute hatten oft nicht die entsprechende warme Bekleidung, was sich besonders im strengen Winter 1946/47 auswirkte. Das Holz mußte abgefahren werden (Reparationsholz). Mensch und Tier kamen nicht zur Ruhe. Schlachten durfte man nur, wenn das Soll erfüllt war. Aber sicher haben so manche Schweine ihr Leben "schwarz" lassen müssen. Und auch ist es passiert, daß, wenn das Fleisch verbraucht war, einige Leute die Arbeitsstelle wechselten. Winterentlassungen, wie es mal geschrieben wurde, gab es nicht.

Die wachsende Feindseligkeit der Behörden gegen die Altbauern wurde immer gefährlicher. Zum Schimpfwort im Mund der Parteiredner auf den Versammlungen verkam das Wort "Großbauer". Die Schwierigkeiten wuchsen mehr und mehr. Die MTS (Maschinentraktorenstationen) arbeiteten kaum für die größeren bäuerlichen Betriebe und dann nur, wenn es von den Neubauern keine Aufträge mehr gab. Auf sehr frühe Termine wurden die Ablieferungsfristen festgelegt. Um es zu schaffen, mußte man sich sehr beeilen. Noch nicht richtig getrocknetes Getreide mußte gedroschen werden, liegen blieben dafür andere Arbeiten. Kartoffeln konnten nicht zur rechten Zeit geerntet werden, die Zuckerrüben froren teilweise im Boden fest. Kein Erbarmen kannten die Bestimmungen. Kein Bauer war mehr frei in seinen Plänen (Planwirtschaft). Die Regierung wollte die Vernichtung der alteingesessenen Bauern. Das Soll mußte erfüllt werden, es gab kein Pardon, dafür Strafen, Verächtlichmachung in der Presse und vieles andere mehr. Die Ablieferung betrug pro Morgen 7-8 Zentner im Anfang, erhöhte sich schlagartig, als 1948 das Soll erfüllt wurde, auf 11-13 Zentner pro Morgen. An Kunstdünger gab es für das Erntejahr 1952 100 Zentner Stickstoff, 30 Zentner Kalkammonsalpeter und 60 Zentner schwefelsaures Ammoniak. Kali und Kalk blieben unbegrenzt, es war aber wenig vorhanden und die Lagerkapazität (Bahn - Auto) gering. Vater Stalin und seine Trabanten sorgten schon dafür, daß wir nicht zur Ruhe kamen. Das Dreschen erlaubte man nachmittags beschränkt, vormittags war es verboten und nachts ohne Grenzen. Dann mußte man flink sein, denn bei dem letzten reichte der Strom nicht mehr. Einige Bauern mußten ihren Dreschsatz für Mestlin und Hohen Pritz zur Verfügung stellen, wo mit Traktoren angetrieben wurden. Erfassungskontrolleure prüften den Drusch. Die Sackfrage spielte eine große Rolle. Man wurde zur Bürgermeisterei beordert, gepresst und ideologisch aufgeklärt, daß binnen kürzester Frist das Soll zu erledigen wäre. Und schon folgten die neuen Anbaupläne, wo man melden mußte, wieviel gepflügt und eingesät werden sollte. In den Dezember- und Januarmonaten jeden Jahres wurden Razzien durchgeführt und nach verstecktem oder noch nicht ausgedroschenem Getreide gesucht. So mußte die Mutter von Paul Dieckmann (XXIII), die bettlägerig war, raus aus dem Bett, welches von unten bis oben durchwühlt wurde nach versteckter Fleischware. Das waren keine Einzelfälle! Nicht abgeliefertes Getreide war Sabotage gegen den Staat der werktätigen Arbeiter, gegen den Besatzer und wurde bestraft. Das Ablieferungssoll betrug 1951 für 36 ha Ackerfläche 600 Zentner Getreide, 500 Zentner Kartoffeln, 22 Zentner Raps, 18 Zentner Mohn, 80 Zentner Stroh, 7 Zentner Schweinefleisch, Rindfleisch, mehr als 6000 Eier und 15000 kg Milch mit 3,5% Fett. Was blieb für die Wirtschaft?! Die Bauern spielte man gegeneinander aus, den Arbeiter gegen den Bauern, Bürgermeister wurden abgesetzt, Ortsfremde und keine Fachleute eingesetzt. Das SED-Abzeichen war immer gut dafür. Jeder Großbauer lebt in Angst und Sorge, was kommen wird, was für neue Drangsalierungen folgen.

Systematisch wurden die Großbauern durch die Presse dermaßen schlecht gemacht, daß man ahnen konnte, wohin das führen würde. In einer stürmischen Nacht bricht ein Teil der Scheune von Hans Zülck (XX) zusammen. Nägel, Holz Zement bekam man nur, wenn man Butter oder Fleisch liefern konnte, aber vor allem Zeitmangel verhinderte eine größere Reparatur. Pressekommentar: “Dieser halb zerfallene Schuppen zeugt davon, daß er nicht besonderes Interesse hegt, seinen Hof instand zu halten."

1950 flüchtete Hans Jürgen Emcke (XI), der sich den Hof mit seinem Bruder-Werner  (8) teilte. 1951 flüchtete Irene Holz (XI), 1952 Kientopp (XXII). Am 20. 6. 1952 wird Wahls (VIII) verhaftet und später zu 4 Jahren Zuchthaus in Bützow/ Dreibergen verurteilt. Am 29. 7. 1954 wird er auf Bewährung entlassen. Seine Frau und sein Sohn werden vom Hof (Enteignung) nach Neu-Schwinz gebracht. Eine spätere Klage von Frau Clara Wahls hebt die Entlassung auf, weil nicht ihr Mann sondern sie die Eigentümerin ist. Nun beginnt die Abstimmung mit den Füßen. Einer nach dein anderen flüchten die Bauern nach Westberlin. Der letzte Bauer ist Hans Cords mit Familie im April 1953. Am 21. 7. 1952 verläßt Heinrich Rathke (XIV) mit seiner Familie den Hof. Am 26. und 27. Juli 1952 verlassen schweren Herzens sieben Altbauern und sechs Neubauern ihre Höfe und erreichen meistens ohne Schwierigkeiten Westberlin.

Ein Aktiver in Mestlin erklärte seinen Genossen später: “Der jetzt enteignete Großbauer Wahls hat seine Stiefel mit Butter geschmiert. Seinen Arbeitern gab er nur Marmelade und Sirupbrot Wegen der Butterschmiere konnte er sein Soll nicht erfüllen". Zurück blieben Ida Dollase geb. Kröger (XVI), Frau Nieland (II), Hans Zülck (XX) und Wilhelm Dau (XIX). Letztere wurden im April 1953 enteignet und anderweitig untergebracht. Frau Nieland wurde um die Monatswende Juni/ Juli 1962 unter mysteriösen Umständen ermordet.

Niemand sollte glauben, daß die Bauern, und das nicht nur die Ruester, aus Abenteurerlust ihre Höfe verließen. Die meisten Höfe waren nachweislich seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Besitz der Familien. Was das für die Bauern bedeutete, werden sicher nur die verstehen, die in ihrem Leben ähnliche Situationen meistern mußten. Zurück blieben in der ansässigen Bevölkerung Unverständnis und Haß, geschürt durch die damalige Propaganda. Zum Teil dauern sie bis in die heutige Zeit an und trugen wesentlich zum bedauernswerten Zustand unseres alten Heimatdorfes bei und wurden auf jüngere Generationen übertragen. Cato, ein römischer Staatsmann, 95 bis 46 vor Christi Geburt, sagte vor Gericht:"...Sagt das nicht, es ist immer schwer, sich vor einer Generation zu verantworten, die nicht mit uns gelebt hat.......

Am 24. Juli 1952 fuhr meine Frau mit Pferd und Wagen nach Goldberg, um dort Blumenkohl auf "Freie Spitze" zu verkaufen. Bei erfülltem Gemüsesoll war es möglich. Auf dem Rückweg beim Eckenkamp, ein Wald 3 km westlich Goldbergs, kam der uns gut bekannte Volkspolizist Walter Pudritzki in Zivil an den Wagen, sagte zu meiner Frau: “Mehrere Bauern aus Ruest werden noch vor der Ernte verhaftet. Mehr brauche ich ihnen wohl nicht zu sagen." Ehrlich oder??!!

Nun herrschte große Aufregung, gehen wir, bleiben wir? So ging es hin und her. Vor Augen das kommunistische System faßten wir den Entschluß, den Hof zu verlassen, seit dem 02. 05. 1647 im Familienbesitz, um uns nach Westberlin zu begeben. Bestärkt wurden wir noch durch Äußerungen der Flüchtlingsfrau G..., die zu den bei uns beschäftigten Frauen Degner und Kühn gesagt hatte, daß ich dick im Schwarzen Brett stünde. Sie brauche nur ein Wort zu sagen, dann würde ich verhaftet. Auch der kriegsbeschädigte Flüchtling H. Porsch hatte kurz zuvor einen Spitzelauftrag vom Bürgermeister Pigulla erhalten. Ende Juni 1952 warnte mich der Bürgermeister Pigulla unter vier Augen, in Zukunft nicht die Maßnahmen der DDR als Gemeindevertreter der CDU zu kritisieren.

Wir machten uns also am Sonntag, dem 27. Juli 1952, auf den Weg in die Freiheit. Als Vorkommando waren mein Vater und unser Sohn Johann-Dieter schon zehn Stunden früher gefahren. Am Montagvormittag fanden wir uns dann alle wieder in Westberlin, überglücklich, beisammen zu sein und untröstlich, unsere Heimat verloren zu haben. Aber ich nahm den Hut ab und begrüßte die Freiheit.